Das Themenspektrum in den TV-Debatten mit den Spitzenkandidat*innen für die Bundestagswahl hat gezeigt, was die Bürger*innen und die Parteien bewegt: soziale, wirtschaftliche und auch ökologische Fragen. Nicht erwähnt wurden jedoch: Die Agenda 2030 und die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Die SDGs werden nicht als Orientierungsrahmen für die deutsche Politik wahrgenommen, obwohl sie die Anliegen der Bürger*innen z.B. zu Bildung, Wohnen und Klimaschutz widerspiegeln. Zu sehr gehören die SDGs in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin dem abstrakten Universum der fernen Vereinten Nationen an. Sie mögen für Entwicklungsländer gelten, aber nicht für ein erfolgreiches Industrieland wie Deutschland – der universale Anspruch der Agenda 2030 ist weitgehend unbekannt. Mit dieser Vernachlässigung der Agenda 2030 geht auch ihre Vision verloren, obwohl das gesamte demokratische Parteienspektrum sie im Grunde teilt: die Vision einer nachhaltigen, gerechten und sicheren Welt, in der alle Menschen ohne Hunger und Armut, in Frieden und Wohlstand und mit Respekt für unsere natürlichen Lebensgrundlagen leben können.
„In der neuen Legislaturperiode muss die Agenda 2030 endlich zur Richtschnur deutscher Politik werden.“
Dabei würde auch der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sehr von einer konsequenten Orientierung an den SDGs profitieren. Denn die Implementierung der Agenda 2030 und ihrer 17 Ziele durch die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) ist bisher bestenfalls unzulänglich. Alle vier Jahre wird die Strategie umfassend weiterentwickelt, zuletzt im März 2021. Bei der Umsetzung der Strategie hapert es allerdings aufgrund der Fokussierung auf unzusammenhängende Einzelmaßnahmen der Ministerien ohne zentrale Steuerungsfunktion. Das macht die DNS zu einer Pflichtübung ohne Konsequenzen und in den Augen vieler Beobachter*innen zu einem fast 400-seitigen Papiertiger.
Die nächste Bundesregierung ist herausgefordert, die eigene Nachhaltigkeitspolitik neu aufzustellen und auf Erfolg auszurichten. Zwar hat Deutschland in dem im Juni dieses Jahres veröffentlichten Sustainable Development Report 2021 den vierten Platz bei der Umsetzung der SDGs belegt – dies darf aber nicht über die enormen Herausforderungen z.B. in den Bereichen soziale und Bildungsgerechtigkeit insbesondere in Folgen der Corona-Pandemie, nicht-nachhaltiger Konsum und Umsetzung der Energiewende hinwegtäuschen.
Zudem sind die SDGs kein internationales Schaulaufen, bei dem es darum geht, zu jeder Berichtsperiode als erstes über eine Ziellinie zu kommen. Vielmehr gilt es, stetig und im Rahmen der nationalen Möglichkeiten einen Beitrag zur weltweiten Erreichung der SDGs zu leisten. Die Verantwortung endet nicht an der eigenen Landesgrenze. Gerade Deutschland ist für zahlreiche negative, sogenannte Spillover-Effekte auf andere Länder verantwortlich. So hinterlassen wir insbesondere durch unsere exportorientierte Wirtschaft, die Verlagerung von schmutziger Produktion in andere Länder und unseren Ressourcenverbrauch einen beachtlichen ökologischen Fußabdruck im Ausland.
In der neuen Legislaturperiode muss die Agenda 2030 daher endlich zur Richtschnur deutscher Politik werden. Aus diesem Grund ist in Anlehnung an das Perspektivenpapier des Staatssekretärsausschusses für nachhaltige Entwicklung vom Juni 2021 eine Neuaufstellung der Governance-Struktur der Deutschen Nachhaltigkeitspolitik vonnöten. Diese muss auch im Koalitionsvertrag ihren Niederschlag finden. Die nächste Bundesregierung sollte für eine effektive und integrierte Implementierung der SDGs bis Mitte 2022 eine knapp gehaltene und auf Umsetzung fokussierte Aktualisierung der DNS mit Zielsetzungen und Maßnahmen für die 20. Legislaturperiode beschließen. Diese Weiterentwicklung bzw. Konkretisierung der DNS gleich zu Anfang der neuen Legislaturperiode – statt wie bislang am Ende – kann ihre politische Relevanz maßgeblich erhöhen. Begleitet werden sollte die Weiterentwicklung durch eine politische Stärkung der verantwortlichen Strukturen im Kanzleramt, z.B. durch die Verankerung der Zuständigkeiten auf Abteilungs- und Staatsminister-Ebene statt bislang in einem Fachreferat.
Dabei ist die Nachhaltigkeitspolitik auch im Sinne der internationalen Verantwortung Deutschlands auszurichten und muss klare, messbare und ambitionierte Zielsetzungen in der internationalen Klima-, Biodiversitäts- und Entwicklungspolitik, in der Außenwirtschaftspolitik und in der Finanzpolitik enthalten. Somit spielen neben dem Umweltministerium auch die für die auswärtigen Politiken zuständigen Ressorts, insbesondere das Entwicklungsministerium und das Auswärtige Amt, eine Schlüsselrolle.
Zum Ende der Legislaturperiode sollte Anfang 2025 umfassend Bilanz zur Umsetzung und Zielerreichung der Nachhaltigkeitsstrategie gezogen werden. Mit Blick auf die Neuanlage der Strategie in 2026 ist eine breite Reflexion aller Beteiligten in Regierung, Parlament und Gesellschaft, die über eine kleine Gruppe von „Nachhaltigkeitsbewegten“ hinausgeht, dringend notwendig. Darüber hinaus ist in Anbetracht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz, das über Art. 20a GG die Rechte zukünftiger Generationen zur Richtschnur des Handelns in der Klimapolitik macht, auch die Nachhaltigkeitspolitik generationengerecht zu gestalten. Auch die Alltagswirklichkeit der Bürger*innen mit ihren Sorgen und Nöten bezüglich Schulbildung, Rente, ÖPNV im ländlichen Raum etc. ist einzubeziehen, um den Anspruch der DNS eines „Gemeinschaftswerks” zu verwirklichen. So ist es denkbar, dass Bürger*innen die Verpflichtungen der Bundesregierung im Rahmen der Agenda 2030 in einer „Wahlarena” im nächsten Bundestagswahlkampf aktiv ansprechen werden.